Eine Berliner
Familiengeschichte

Als meine Eltern im Spätherbst 2018 kurz nacheinander verstarben, war meine Trauer unbeschreiblich groß. Beim Auflösen ihrer Wohnung stieß ich auf alte Fotoalben – nicht nur Erinnerungen an unser gemeinsames Leben, sondern auch ein Stück Familiengeschichte. Darunter fand ich Bilder der Brotfabrik in Berlin-Weißensee, die bis heute unter diesem Namen als Kulturzentrum existiert und 1880 von meinem Urgroßvater August Lehmpfuhl gegründet wurde.

Als überzeugter Christ nahm er seine soziale Verantwortung ernst: Er lud Straßenkinder aus der Nachbarschaft in seine Backstube ein, versorgte sie nicht nur mit frischem Brot, sondern brachte ihnen anhand von Bibeltexten auch das Lesen und Schreiben bei. Sein Engagement sprach sich herum und immer mehr Menschen kamen, um diese besondere Verbindung aus Biblischem Wort und Brot zu erleben. Als der Platz nicht mehr ausreichte, suchten sie nach geeigneten Räumen – 1906 wurde die Baptistengemeinde Berlin-Weißensee gegründet, die bis heute in der Friesickestraße 15 existiert.

Reinhold Lehmpfuhl’s
Landbrot

Beim Durchblättern der Alben begegnete ich auch immer wieder meinen Großeltern Hedwig und Reinhold Lehmpfuhl – und entdeckte einen Lieferwagen mit der Aufschrift „Reinhold Lehmpfuhl’s Landbrot“. Diese Bilder faszinierten mich und ließen mich tief in unsere Familiengeschichte eintauchen. So entstand mein Schwarz-Weiß-Zyklus „Neue Heimat“, in dem ich meine Erinnerungen und die Spuren meiner Vorfahren künstlerisch verarbeitete.

Besonders beeindruckte mich die Geschichte meiner Großmutter Hedwig Lehmpfuhl: Während der beiden Weltkriege griff sie auf das Bäckerhandwerk ihres Schwiegervaters zurück. Mit viel Geschick und Gottvertrauen gründete sie am 17. Juli 1917 die Brotfirma „Reinhold Lehmpfuhl“ in der Prenzlauer Promenade 175 – während ihr Mann an der Front des Ersten Weltkriegs kämpfte. Nach seiner Rückkehr war die Freude groß, und gemeinsam führten sie das Geschäft weiter.

Die Brotfabrik existierte nach August Lehmpfuhls Tod noch bis 1952. Danach wurde das Gebäude unterschiedlich genutzt – zunächst als Seltersfabrik, später als Lagerraum. 1988 entstand dort ein FDJ-Jugendklub, bevor die Räume nach der Wende zum heutigen Kulturzentrum Brotfabrik wurden.

Die Wiederentdeckung
eines Familienerbes

Mir war es wichtig, meine Wurzeln zu erforschen und meine Trauer in Dankbarkeit zu verwandeln. Ich wollte die alte Bäckereitradition der Familie Lehmpfuhl wiederbeleben – doch das Rezept unseres Landbrots schien verloren. Sechs Jahre lang suchte ich danach, bis mein Neffe 2. Grades, Lukas Lehmpfuhl, Anfang 2024 fündig wurde: Im Nachlass seines Großvaters Harro Lehmpfuhl, dem Sohn von Reinhold Lehmpfuhl, entdeckte er ein handgeschriebenes Rezeptbuch mit zahlreichen Randnotizen. Harro hatte die Herstellung des Lehmpfuhlbrots meisterhaft beherrscht, doch mit seinem frühen Tod 1981 geriet es in Vergessenheit.

Um das wiederentdeckte Rezept zu testen, empfahl mir Wilhelm von Boddien die Bäckerei Schnell in Berlin-Weißensee – ein Familienbetrieb in fünfter Generation. Im Spätherbst 2024 nahmen wir Kontakt auf und siehe da: Es entstand ein wunderbares Sauerteigbrot mit 70 % Roggen, 30 % Weizenmehl und einer feinen Gewürzmischung. Wir haben das Familienrezept aus der Kaiserzeit behutsam verfeinert und so ein besonders aromatisches und haltbares Brot geschaffen.

Christopher Lehmpfuhl

Alle Berliner Filialen der Bäckerei Schnell